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Gernhardt – Leipzig, 9.12.1997

Es ist immer eine besondere Freude, sozusagen die "Vorgruppe" für Robert Gernhardt abzugeben – da hat man immer ein volles Publikum, wollte sagen ein volles Haus. Ich beobachte das schon seit einigen Jahren, es ist immer gleich voll, egal wie groß der Raum ist, nur die Menge derer, die nicht mehr reinkommen, wächst. Einmal ist Robert Gernhardt in einem Regensburger Lokal namens "Leerer Beutel" aufgetreten. Überliefert ist das Gernhardt-Wort, als der Buchhändler immer mehr Stühle herbeischleppt: "Wenn das ein leerer Beutel sein soll, wie sieht dann ein voler aus?"

So kann auch der Einführende, in dem Falle ich, mit einem großen Publikum rechnen, da die meisten dableiben, um ihre Plätze zu verteidigen. Hier in Leipzig gehört unser Autor ja auch quasi schon zum Inventar und kann mit einem Stammpublikum rechnen. Das macht es mir etwas einfacher, denn ich habe mir vorgenommen, nur über einen Aspekt zu sprechen., den Aspekt des Lehrens und des Lernens bei Robert Gernhardt. Wir sind hier ja Gäste eines Literaturinstitutes, das es sich zur Aufgabe stellt, die Kenntnisse zu vermitteln, die notwendig sind, Literatur herzustellen. Und bei diesem Autor findet man geradezu lustvolle Anleitungen dazu. Denn Robert Gernhardt betont das Handwerkliche seiner Kunst.

Der Gedichtband des heutigen Abends, die "Lichten Gedichte", enthalten im letzten Teil einen Zyklus. Der Zyklus "Herz in Not" besteht aus einhundert Gedichten. Die einhundert "Herz in Not"-Gedichte beziehen sich auf eine Herzoperation, der sich unser Dichter unterziehen mußte. Hundert Gedichte über sein krankes Herz, über die Vorbereitungen zur Herzoperation, über die Nachkur und die ganzen Verhältnisse drumherum: 69 Prä-Op- und 31 Post-Op-Gedichte. Eine der Besonderheiten dieses Zyklus ist: Die Gedichte begleiten den ganzen operativen Eingriff von Anfang bis Ende, und dadurch kommt eine diachrone Dimension hinein, also eine zeitliche Erstreckung und Entwicklung. Aus den Momentaufnahmen der Einzeltexte wird die Dauer des Zyklus.

Hier kann man sehen, wie sich das lyrische Ich an seiner Krankheit quasi selber schult. Es lernt dazu: Es lernt über sich selbst von sich selbst – der Körper hat die Rechnung für 60 gut gelebte Jahre bekommen, der Geist sieht sich mit der Erkenntnis konfrontiert, daß er vom "Leben zum Tode" keineswegs ausgenommen ist. Die Einsicht, daß dem Leben eine Verlustperspektive eingeschrieben ist, findet sich schon in früheren Texten. Aber hier erreicht sie eine neue Qualität.

Das lyrische Ich lernt über den eigenen Tellerrand hinaus. Hier rückt durch die Krankheit plötzlich etwas ins Zentrum des Interesses, das zuvor allenfalls am Rande wahrgenommen wurde: Der Kranke lernt, daß der besondere Zustand, in dem er sich befindet, etwas allgemeines ist:

Beschwichtigung zum zweiten

"So ein Bypass, du,

ist was ganz Normales!

Der Manfred hat einen

und der Hans-Werner,

der Max und der Günter,

der Paul und" – Kein Wort mehr!

Man schämt sich ja regelrecht ohne!

Was der Sprecher hier über sich und seine Krankheit erfährt, das ist auch von allgemeinem Interesse. Und wiederum eine Vorbedingung für die Entstehung von Literatur: Sie soll ja aufs Allgemeine zielen und anderen etwas mitzuteilen haben. Lyrik, als Selbstgespräch des Autors, tendiert hier dazu, für andere zu sprechen und andere anzusprechen. Das Wunderbare an Gernhardts Lyrik ist, daß sie sich nicht nur ganz neue Sujets erschließt oder sich ganz alte Sujets "Herz/Schmerz" auf neue Weise erschließt. Das Wunderbare ist, daß er sich ganz neue Leserkreise erschließt. Ein Beispiel: Da will eine Redakteurin das legendäre Krankenzimmer unseres Autors in der Kerckhoff-Klinik Bad Nauheim filmen. Sie will das Bett filmen, in dem er lag. Und sie ruft in der Klinik an. Und darf man es glauben? Die Frau in der Telefonzentrale antwortet mit Versen aus einem Gernhardt-Gedicht. Die persische Praktikantin Pega und ihr Berufsstand, das Pflegepersonal, sind doch überhaupt noch nicht besungen worden von unserer Lyrik. Und sie sind doch auch ein wichtiger Ausschnitt unserer Realität. Ich glaube, man kann ihm das gar nicht hoch genug anrechnen, was er hier der Dichtung erschließt.

Plötzlich ist es sogar wieder möglich, über die eigene Befindlichkeit zu sprechen, ohne daß es peinlich oder abgeschmackt wirkt. Der Kranke lernt in besonderer Weise dazu. Er saugt alle ihn und seine Krankheit betreffenden Wissensdaten geradezu auf; bald ist er schlauer als sein Arzt – eine Erkenntnis, die Robert Gernhardt bereits in seiner "Krankengeschichte" – also, die Erzählung heißt so – in der Sammlung "Kippfigur" erschienen – eine Erkenntnis also, die Gernhardt in seiner "Krankengeschichte" bereits thematisiert hat. Der Kranke lernt anders als der Gesunde, schneller, effektiver und gewissenhafter, denn bei ihm geht es um Leben und Tod. Der Kranke lernt in hilfreicher, besorgter Weise dazu, er beobachtet sein Herz via Katheter, fast schon routiniert prüft er die "Herzkatheter-Sachkostenaufstellung", er wird soziologisch:

"Nimm´s nicht persönlich!

Es trifft gern Personen

wie dich: Männlich,

zwischen fünfzig und sechzig,

wichtig und übergewichtig –"

Der Dichter-Patient lernt, sich einzuordnen, sich zu klassifizieren: beim Einzelzimmer haben die Transplantationspatienten Vortritt. Er selber ist nur ein Bypass. Es gibt eine ganze Hierarchie der Herzpatienten, begreift er schnell. Ganz oben rangieren die Transplant-Patienten, darunter rangieren die Bypässe in absteigender Linie. Zu den Bypässen kommen die Komplikationen: der Herzstillstand ist nicht nur Begleiterscheinung der Operation, sondern auch ein Ereignis, mit dem der Kranke Punkte machen kann.

Soviel zum Thematischen. Gernhardts Lyrik richtet unser Augenmerk immer auch aufs Formale. Hier, und vor allem hier, kann man von Robert Gernhardt lernen. Für seinen "Herz in Not"-Zyklus hat er die Strophenform des Siebenzeilers verwendet. Der Siebenzeiler kann etwa die ersten sechs Zeilen einem Dialog vorbehalten (ab ab ab) – und er hält sich die Möglichkeit zu einem Resumee oder Kommentar in der letzten Zeile offen. Jedes Gedicht im Zyklus hat eine Überschrift, eine thematische Vorgabe sozusagen, die vom Text erfüllt oder unterlaufen wird – komikträchtige Situationen zuhauf.

Unser Autor hatte die Gelegenheit, diesen Zyklus der 100 Gedichte einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen, als er auf Einladung der DG-Bank an einer literarischen Tournee in Deutschlands Norden teilnehmen konnte. Und auch das ist wieder typisch für ihn: Er hat die Publikumsreaktionen genutzt, um seine Texte noch zu verbessern, noch pointensicherer zu machen, so daß wir hier quasi die langgereifte, an Lesern bzw. Hörern erprobte optimale Form der Gedichte vorliegen haben. Und das bringt mich auf ein weiteres wichtiges Buch, die "Gedanken zum Gedicht". 1990 als Haffmanns-Taschenbuch 100 erschienen, sind die "Gedanken zum Gedicht" ein poetologischer Exkurs, in dem unter anderem die Frage ausgeworfen wird, ob man Gedichte verbessern könne. Wer so fragt, rückt ab vom "Kunst ist ewig"-Postulat, das lang genug unsere Köpfe verdämmert hat. Und da wird dann ganz uneitel und schnörkellos ernst gemacht und am konkreten Beispiel gearbeitet, nach dem Motto "Unruhe ist nunmal die erste Leserpflicht". Das Netz der großen und kleinen verbesserungswürdigen Gedichte, das Gernhardt einzieht, überzeugt durch seine Ausbeute. So zitiert er aus einem Briefwechsel Friedrich Torbergs mit Alexander Lernet-Holenia – ein Briefwechsel über sogenannte "Gedächtnis-Varianten". Lernet-Holenia trägt ein Goethe-Gedicht aus dem "West-Östlichen Divan" in sich herum. Es verändert sich, verbessert sich in seinem Gedächtnis.

Auch von ganz offensichtlichen Fehlern weiß Robert Gernhardt zu berichten, die natürlich verbessert werden müssen. Die häufig schlecht oder nicht beobachteten, die bona fide unterlaufenen Schlampigkeiten, bei Rilke ebenso wie bei Günter Kunert, bei Bergengruen ebenso wie bei Gottfried Benn, zerstören den Gesamteindruck. Gernhardt zitiert etwa, wie Brecht Ingeborg Bachmann auseinandernimmt, und das ist amusant und lehrreich. "Learning by doing" nennt man das ja wohl, und am meisten Gewinn scheint Robert Gernhardt selbst davon zu tragen. Im Frühjahr fragte die F.A.Z. bei ihm an, ob er einen Geburtstagsartikel zu Heinrich Heine schreiben könne. Gernhardt winkte ab mit der Begründung, er sei nicht gut in Heine, er habe ihn nur sporadisch gelesen. Aber dann hat er sich zwei Wochen lang in Heines Tonfälle eingelesen. Und dann dachte er sich: "Warum, wenn man diesen Tonfall jetzt schon im Kopf hat, warum nicht auch diesem Tonfall folgen, indem ich berichte, wie ich Heine lese und zwar in den Heinestrophenformen, die Heine jeweils benutzt hat." Also: Das ganze geht los mit einem "Prolog im Himmel". Da benutzt er die vierhebige Trochäe, eine Form, die Heine sehr gern für Erzählendes, für den "Romanzero" und für den "Atta Troll" verwendet hat. Wo der frühe Heine Sonette schreibt, da schreibt Gernhardt in der Sonettform, und wo Heine im Volksliedton das "Buch der Lieder" schreibt, da verwendet Gernhardt den Volksliedton. Ein modernes Ich präsentiert sich hier in klassischen Versen, ein Palimpstest entsteht. Gustav Seibt hat in einer maßgeblichen Rede auf Robert Gernhardt die wichtige Erkenntnis gestiftet, daß mit Gernhardts spezifischer Verknüpfung alter Formen mit neuen Inhalten auch ein ganz neuer Ton in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hereingekommen sei. Während die meisten zeitgenössischen Dichter wie die ersten Menschen dichteten, als gäbe es das jahrhundertelang erprobte Formenrepertoire nicht, erfüllt Gernhardt es mit neuem Leben. In die trübe Larmoyanz der deutschen Gegenwartslyrik sind mit ihm Witz und Poesie eingetreten. Und mit seinem Verfahren es ist plötzlich wieder möglich, die großen alten Themen der Innerlichkeit, der Erfahrung des Selbst, die großen Menschheitsthemen wie Liebe, Alter und Tod anzugehen, ohne daß es abgeschmackt und lächerlich wirkte. Und wie man diese Formen mit Leben füllt, eben das kann man bei Gernhardt spielerisch leicht und lustvoll lernen.

Um die Sache abzurunden, möchte ich Sie noch auf die "Wege zum Ruhm" hinweisen: Der eine oder andere unter Ihnen schreibt ja wohl selber, vielleicht auch Gedichte und vielleicht gar nicht mal schlechte, und da ist es gut, einen Leitfaden zum Erfolg zu haben. Ich möchte schließen, wie ich begonnen habe, nämlich mit den Räumlichkeiten: In "Wege zum Ruhm" gibt der Dichter Ihnen, die es angeht, einen guten Rat mit auf den Weg: ZITAT "Noch immer gibt es Kunstakademien, bis heute gibt es keine Dichterschulen. Was tun? Mein Rat: Mach es wie Wolfgang Hildesheimer, Peter Weiss, Günter Grass und ich, geh auf eine Kunstakademie und werde Schriftsteller. Kunstakademien sind gepflegte, meist günstig gelegene Gebäude", da ist man in wohliger Wärme, "weg von der Straße und kann, vom Staat bezuschußt, in aller Ruhe überlegen" was man werden soll.

Folgen Sie diesen weisen Worten und lassen Sie sich nun wärmen von seinen "Lichten Gedichten".

 

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