Robert Gernhardt: "Kippfigur. Erzählungen". Zürich (Haffmans Verlag) 1986.
`Kippfigur´ ist ein Begriff aus der Wahrnehmungspsychologie: er bezeichnet optische, meist graphische Darstellungen, die durch Änderung von Blickwinkel und Perspektive in ein anderes Bild `umkippen´ können. Übertragen auf Gernhardts Erzählungen meint der Begriff rhetorische Figuren, Stimmungsbilder, Ereignisse, die zum `Umschlagen´ der erzählten Geschichte führen. Die "Krankengeschichte" zum Beispiel erzählt vom Leidensdruck des Asthmakranken, der dem Gesunden quasi voraus und überlegen ist: "Der Kranke wartet auf die Welt des Gesunden, den Gesunden erwartet die Welt des Kranken." Die Dialektik von `Gesund´ und `Krank´ wird hier mit komischen Mitteln dargestellt, denn `Kippphänomen´ ist auch ein Terminus aus der Komiktheorie und meint das Umschlagen von Ernst in Unernst. Prinzipien, so führt dieser Band etwa vor, können totgeritten, und Witze, vor allem geschmacklose, können so sehr strapaziert werden, daß sie in ihr Gegenteil umschlagen. Somit ist jede Erzählung ein Modellfall einer `Kippfigur´. In einer Parodie auf das Buch Hiob sind die Merkmale von Gott und Teufel derart gegeneinander verschoben, daß der liebe Gott als lüsterner Teufel und der böse Teufel als pragmatischer Sittenwächter erscheint ("Das Buch Ewald"). Die "Florestan-Fragmente" führen explizit vor, daß sie das Erzählmodell von Boccaccios "Decamarone" zugleich adaptieren und ironisch transformieren. Somit zielt jeder Text über die erzählte Geschichte hinaus und ist beispielhaft und beispielgebend. In Gernhardts Werk ist er Ausdruck für das typische Verfahren des Autors, sich an tradierten Gattungen, Themen und Figuren zu reiben, bis aus der Reibung etwas Neues entsteht. (Lutz Hagestedt)
"Lug und Trug. Drei exemplarische Erzählungen". Zürich (Haffmans Verlag) 1991.
Der Untertitel des Bandes spielt auf Cervantes an, der seine Novellen `exemplarisch´ nannte, weil keine darunter sei, "der sich nicht eine nützliche Lehre abgewinnen ließe".
Die erste der drei Erzählungen, "Tübingen oder Belegte Seelen", erzählt von einem Sohn, der sich von seiner Frau trennt und bei der Mutter unterkriecht. Er ist verletzt, larmoyant, "ichverfallen", und er sieht sich als Opfer eines niemals präzisierten Unrechts. Der Schriftsteller, der zur Handlungszeit gerade einen pornographischen Roman übersetzt, ist blockiert, bis er begreift, daß Erwachsenwerden bedeutet, sich der Welt zuzuwenden, die Lage zu erkennen und sich ihr zu stellen.
"Blanket Creek oder Verwilderte Wünsche" erzählt von einem frischverliebten Paar, das in Kanada unterwegs ist. Der gemeinsame Urlaub im Camper soll die noch junge Partnerschaft auf die Probe stellen. Konflikte sind reichlich vorhanden: Carla, die Kultur-Frau, und Gerd, der Natur-Mann, liefern sich einen "Psychokleinkrieg" – für beide Seiten "ein höchst gelungener Selbsterfahrungs- und Ichfindungstrip". In einer "Trias" von Freundinnen wird diese Geschichte erzählt, die nach einem festen Kodex zusammentreffen. Dieser Kodex erlaubt es nicht, zu lamentieren oder zu schwärmen. Zugelassen sind nur Erzählungen mit "Erkenntnis- oder Unterhaltungswert". Aber der strenge Kodex führt dazu, daß wahre Geschichten zu "Lug und Trug"-Geschichten werden.
"Komodo oder Erloschene Konten" schließlich erzählt von Christian, einem Redakteur, der im exotischen und erotischen Reiseland Bali allein Urlaub machen soll, um seine Libido anzuregen. Er hat es seiner Frau Ingrid versprechen müssen, Bali "unsicher" zu machen, doch es kommt nicht dazu. Einerseits ist er viel zu gehemmt, andererseits verbietet es ihm die "Idee des europäischen Reisenden", die eingeborenen Schönheiten bloß als Lustobjekte zu sehen. Dabei ist er selbst ein "Objekt des Interesses", denn das Urlaubsland Bali hat sich längst darauf eingestellt, den Touristen abzuzocken. Die Bilanz von historischer Schuld und modernem Beschiß ist ausgeglichen, es gibt keine Bewegungen mehr, die Konten sind erloschen. (Lutz Hagestedt)
Robert Gernhardt: "Ich Ich Ich". Zürich (Haffmans)1982.
Bereits den siebten Sommer verbringt der Erzähler in der Toscana, um zu malen. Er sucht Ruhe und Muße und das Licht, zugleich "Heimsuchung" und "zärtlicher Bildhauer". Doch diesmal sind es innere Stimmen, deren Heimsuchung er fürchten muß. Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen, sich Rechenschaft über sein Leben und seine Kunst abzulegen. Ein bitteres Resumee: Die radikalen, kompromißlosen Forderungen, denen sich der wache Zeitkünster (halbherzig) angeschlossen hatte, haben sich als unvernünftig erwiesen. Gleichwohl sieht er sich an Überzeugungen festhalten, die längst an der Realität des Menschlich-Allzumenschlichen gescheitert sind. Er ist nicht in der Lage, sich selbst aus seinen Schuldgefühlen zu entlassen. "Da er gut Tiere zeichnen kann", denkt er, wäre er bestimmt als Höhlenmaler "groß rausgekommen", damals, in prähistorischer Zeit. Stattdessen muß er sich für Plakatwände schämen, auf denen seine Tierzeichnungen für Magenbitter Reklame machen. Sein Geld mit Werbung zu verdienen, hätte der Künstler prinzipiell schon ablehnen müssen, aber seine Auftraggeber "versprachen ein Schweinegeld". Der Maler, der sich seinem Selbstverständnis nach keinesfalls zum "Söldling des Kapitals" hätte machen dürfen, ist käuflich geworden. Geknetet und geknechtet von den Stimmen des Gewissens verliert der Künstler auch die letzten Reste seines Selbstwertgefühls: Er ist den einmal geglaubten Werten nicht gerecht geworden. Nun muß er einen imaginierten Prozeß gegen die Vertreter der öffentlichen Moral führen, einer Moral des linken, sich aufgeklärt gebenden Spektrums. Der komische Roman handelt von diesem "Prozeß in eigener Sache" (Johannes Möller). In vollkommener Einsamkeit imaginiert sich der Erzählere ein ganzes Ensemble von Stimmen herbei, alles Facetten seiner Person. Alle Figurenrede, alle Dialoge, alle Spielszenen sind von ihm erinnert oder erfunden. Auch das Mosaik der verschiedenen Textsorten, aus denen sich dieser Roman zusammensetzt, besteht nur in seinem Kopf. Der Roman ist ein Reflex auf die gesellschaftpolitischen Debatten der alten Bundesrepublik, die der Zeit nicht standgehalten haben. Die virtuose Erzähltechnik des Romans erhebt den Stilbruch zum Prinzip. In Gernhardts Œuvre ist dies der bisher ambitionierteste Text. (Lutz Hagestedt)