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Aus: Kindlers Neues Literaturlexikon

Robert Gernhardt

 

ICH ICH ICH. Roman von Robert Gernhardt, erschienen 1982.-

Ich Ich Ich gliedert sich in die fünf Kapitel "Ich", "Du", "Er", "Sie", "Es". Das erste Kapitel, zugleich die Exposition, ist eine Rückblende auf die Situation des viel beschäftigten und wenig respektierten Malers und Schriftstellers `G[ernhardt]´ in Frankfurt am Main. Vor minderwertigen Angeboten kann er sich kaum retten, aber seinen Honoraren muß er hinterherlaufen. Er bildet sich ein, mündig und engagiert zu sein, aber seine Bereitschaft, sich "in alles reinzuhängen", ist auf ihrem Nullpunkt angelangt. Die "Wahnvorstellungen" eines Bundeswehrgenerals im Nachrichtenmagazin Der Spiegel quälen ihn ebenso wie die Dialoge mit der "Spinne Erinnerung". Alles, was er anfaßt, gerät ihm "zu Lärm und Abscheulichkeit". Er beschließt, schleunigst seine Flucht nach Italien anzutreten. Das zweite Kapitel, "Du", zeigt ihn auf dem Weg nach Süden. Eine Erzählung aus der Kindheit kommt ihm in den Sinn, sie zeigt ihn idealisiert als "Weißen Ritter" mit blankem Schwert. Das Kapitel, das nur zwei Seiten umfaßt, ist in Terzinen gehalten und eine direkte Parodie des ersten Gesangs von Dantes "Inferno": "Ich fand mich, grad in unsres Lebens Mitte,/ in München Süd, den Wagen aufzutanken,/ da ich von Frankfurt fortgewandt die Schritte". Der Haupt- und Mittelteil des Romans, das Kapitel "Er", zeigt ihn in Montaio in der Toscana. Er ist es leid, sich "dauernd in Frage stellen zu lassen", dabei ist er es selbst, der sich ironisch der Kritik unterzieht. Der ganze Roman kann als "Prozeß gegen sich selbst" (Johannes Möller) gelesen werden, und so ist es nur konsequent, daß der Maler und Erzähler alle Rollen, einschließlich der Zeugen und der Richter, herbei-imaginieren muß. In vollkommener Einsamkeit besetzt er, gereizt und rechthaberisch, ein ganzes Ensemble von Stimmen: Alle Figurenrede, alle Dialoge, alle Spielszenen (vor Gericht, beim Geburtstag der Lektorin, als Tatverdächtiger, als Fremdenführer, in zwieträchtig-geselliger Runde im Restaurant usw.) sind von ihm erinnert oder erfunden. Auch das Mosaik der verschiedenen Textsorten, aus denen sich dieser Roman zusammensetzt, besteht nur in seinem Kopf: die Italienisch-Lektionen, die kunsttheoretischen Gespräche mit den echten/falschen Freunden, das Verhör im Kommissariat etc. – alles Ausgeburten seiner Phantasie. Selbst der imaginierte `Leser´ bzw. `Besucher´ wird textintern angesprochen: Scheinbar gut gelaunt bietet der Erzähler Ausflüge (in die italienische Kunstgeschichte) oder Führungen (ums Haus) an, die dann in der Beschimpfung des `Gastes´ enden – eine in jeder Hinsicht witzige Thematisierung der Textgrenzen und der enervierten Verfassung des Erzählers. Dieser lobt in einer seiner Führungen die körperhafte Kunst der Renaissance und stellt ihr die zeitlose Schöpferkraft des "toscanische[n] Licht[s]" gegenüber, einem Licht mit demokratischen Qualitäten: "Ist es ein Zufall, daß in dieser Landschaft die ersten nachantiken Republiken entstanden, hier, wo vor dem Licht alle gleich sind, gleich verklärt?"

Diese internen Mono- und Dialoge repräsentieren quasi die `dramatische´ Form im Text, so daß in Ich Ich Ich alle drei Hauptgattungen, die Prosa, die Lyrik (Kapitel "Du") und die Dramatik berücksichtigt sind. Die streitbare Wechselrede erweist sich im übrigen als später – und ironisch gebrochener – Reflex auf die gesellschaftpolitischen Debatten der alten Bundesrepublik, die der Zeit nicht standgehalten haben: Am Leitbild von 1968 gemessen war der Erzähler ohnehin ein Verspäteter. Und jetzt ist er spät dran, diesem Leitbild den Laufpaß zu geben. Er ist ein Epigone seiner selbst und ein "bewußtloser Nachzügler" der großen Italienreisenden. Als angehender Maler war "der junge G einem Heer von Schatten hinterhergezogen", vielmehr: "nichtsahnend hinterhergestolpert". "Nie war G mehr Künstler gewesen als auf jener Italienreise [von 1953], deren durch und durch dilettantische und eklektische Ergebnisse er später mit höchster Geringschätzung und viel später mit tiefster Rührung durchblättern sollte." Zugleich ist er skrupulöser Pionier derer, die Italien als Kunst und "Massenreiseziel" neu entdeckt haben.

Das vierte Kapitel, "Sie", schildert den Erzähler, wie er auf einem Kommissariat Feldforschung für ein Hörspiel betreibt. Durch ein groteskes Kommunikationsproblem wird er für einen Mörder gehalten, denn "wie der Schriftsteller in seinem Hörspiel" kommt er "mitten in der Nacht in ein Kommissariat, um sich des Mordes zu bezichtigen". Des Mordes an Peter HANDKE, der das ganze Gegenteil des Erzählers repräsentiert, nämlich den Typus des unbedingten und berechnenden Künstlers, der sich darauf versteht, "geliebt zu werden" und seine Ziele zu erreichen. Das Kapitel "Sie" ist als Text im Text konzipiert, als Binnengeschichte des Romans, an dem der Erzähler gerade arbeitet. Zugleich ist Kapitel vier graphisch-visuell auf derselben Ebene angesiedelt wie die anderen vier Kapitel des Romans. Durch diesen Bruch wird noch einmal deutlich gemacht, daß alle Texte, egal auf welcher Stufe der Sprechsituation sie anzusiedeln sind, von derselben Erzählinstanz generiert werden. Somit geht auch jede Parodie, ob im Stile von VASARI oder PETRONIUS, Groucho MARX oder Dashiell HAMMETT, RILKE oder HOFMANNSTHAL, Hedwig NOLTENIUS oder Woody ALLEN auf denselben Urheber zurück. Dem entspricht auch der Dank des Autors am Ende des Romans, der eine erneute Durchbrechung der Fiktion darstellt: "Ich danke Agatha [CHRISTIE], Bertolt [BRECHT], Carlo [GOLDONI], Dante" usw., "ohne die ich die vorliegenden Seiten weder hätte schreiben können noch müssen." Denn eine solch vertrauliche Danksagung an überwiegend verstorbene Autoren macht nur dann Sinn, wenn sie das Spiel der endlosen Brechungen der Erzählperspektive fortsetzt. Der Titel des Romans verweist auf diese multiple und virtuelle `Person´, in die sich die Erzählinstanz durch die imaginierten Stimmen der Erinnerung und des Gewissens sowie durch die Stimmen der Literatur auffächert. Den Höhepunkt dieser "ständige[n] Selbstbespiegelung" bildet das "große Robert-Treffen", auf dem alle Facetten der Person aufgeboten werden.

Im letzten Kapitel ("Es") schließlich ändert der Protagonist die "Laufrichtung" (F. Kafka): Hier gelingt es ihm in der Maske des "Weißen Ritters", also unter Referenz auf die in "Du" thematisierte Kinderwelt, in einer Folge von märchenhaften "Halbschlafbildern" die Hand der schönen Prinzessin zu erobern – ein Bild für die neu erwachte Zuversicht und Produktivität des Künstlers.

Die Literaturkritik war mit Gernhardts Künstlerroman sichtlich überfordert, es gab viele, aber kaum substanzielle Besprechungen. Einzig Günther FÄSSLER hat dem Leser eine Ahnung von der luziden Komik und der "virtuose[n] Erzähltechnik" des Buchs vermittelt, das den Stilbruch zum Prinzip erhebt. L. Ha.

AUSGABEN: Zürich 1982. – Broschierte Sonderausgabe Zürich 1985. – Zürich 1988 (Haffmans TaschenBuch 2). – Zürich 1997 (in Das Buch der Bücher). –

LITERATUR: M. Rutschky, Rez. (in konkret, 1982, H. 11, S. 84). – G. Fässler, Rez. (in Luzerner Neueste Nachrichten, 6.1.1983). – H. Chr. Kosler, Rez. (in F.A.Z., 15.7.1983). – A. Salvisberg, "Hier spricht der Dichter" – und wer noch? Zum Verhältnis von Komik und Intertextualität bei R. G., Freiburg/Schweiz 1992 (unpubl. Lizentiatsarbeit). – J. Roolfs, Werk im Kontext. Komische Texte R. G.s von 1962 bis 1991, Bln. 1993 (unpubl. Mag.arbeit). – J. E. Reid, Kippfiguren bei R. G. Zur Konfiguration der Wirklichkeitserfahrung des Autors im Kontext des Schreibens "danach", Dissertation Melbourne 1994. – P. Vennebusch, Spaßmacher und Enstmacher. Literarische Kunstgriffe bei R. G., Bonn 1995 (unpubl. Mag-Arbeit). – J. Möller, Recht und Gericht bei R. G. (in R. G., hg. H. L. Arnold, Mchn. 1997, S. 66 – 79; Text + Kritik).

 

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