Kindler
ROBERT GERNHARDT
* 13.12.1937
LITERATUR ZUM AUTOR:
Bibliographien: L. Hagestedt (in R. G. Hg. H. L. Arnold, Mchn. 1997, S. **-** ; Text + Kritik).
Gesamtdarstellungen und Studien: P. Köhler: Nonsens. Theorie und Geschichte der literarischen Gattung. Heidelberg 1989 (Beiträge zur neueren Literatur-Geschichte 3, Folge 89). – L. Hagestedt: R. G. (in KLG, 26. Nlg. 1987/ 45. Nlg. 1993.) – L. Hagestedt: R. G. – der Schriftsteller und sein Werk (in: Ich fahr, weiß nit wohin... Acta Ising 1992. Hg. St. Krimm u. D. Zerlin. München 1993, S. 73 – 93; Wissenschaft im Dialog. Deutsch u. Geschichte). – J. E. Reid: Kippfiguren bei R. G. Zur Konfiguration der Wirklichkeitserfahrung des Autors im Kontext des Schreibens "danach". Melbourne 1994. – T. G. Ringmayr: Humor und Komik in der deutschen Gegenwartsliteratur. A. Schmidt, E. Henscheid u. R. G. Seattle 1994. – P. Kiedaisch: R. G. Kippfigur (in: P. K.: Ist die Kunst noch heiter? Theorie, Problematik und Gestaltung der Heiterkeit in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Tübingen 1995; Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, 87; S. 212 – 220). –– D. Arnet: Der Anachronismus anarchischer Komik. Reime im Werk von Robert Gernhardt. Bern u.a. 1996 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I, 1587). R. G. Hg. H. L. Arnold, Mchn. 1997 (Text + Kritik).
DAS LYRISCHE WERK von Robert Gernhardt.
In der Zeit zwischen 1950 und 1960 vollzieht sich in der modernen Lyrik ein tiefer Bruch, der mit den Stichworten ‘Abkehr’ (von den tradierten lyrischen Gattungen), ‘Verzicht’ (auf alle Formen gebundener Rede), ‘Rückgang’ (von Reim, Metrum, Strophenschema usw.), ‘Absenz’ (von Ballade, Hymne, Liedform, Ode, Rondo, Terzine, Erzähl- u. Gedankenlyrik etc.) charakterisiert ist. Mit Ausnahme des Sonetts werden kaum noch tradierte Gattungen gepflegt. In dieser Zeit beginnt der Gymnasiast Robert Gernhardt, der eigentlich Maler werden möchte, sich vor allem zeitgenössische Lyriker und ihre Gedichte parodistisch zu erschließen. Was spielerisch bginnt, entwickelt eine Eigendynamik, von der bald vier Jahrzehnte lyrischen Schaffens Zeugnis ablegen. Mittlerweise besitzt Gernhardt eine stupende Kenntnis der Tradition, erweitert er ständig sein Repertoire, beherrscht er den einfachen Lied- und Kindervers ebenso wie die Formen der großen Epen. Gernhardt dichtet in nahezu allen gängigen Genres: Abzählreime gehören zu seinem Repertoire ebenso wie Balladen, Blankverse, Couplets, Gebete, Dialog- und Sinngedichte, Epigramme, Hymnen, Knittel- und Rätselverse, Oden, Psalmen, Sonette, Terzinen usw.
Bereits als Student der Malerei und Germanistik arbeitet Gernhardt für die Satirezeitschrift pardon. 1964 tritt er in die Redaktion ein. In pardon erscheinen um die Mitte der sechziger Jahre seine ersten Nonsensverse, darunter im März 1967 eine Parodie auf Nachdichtungen von Goethes Ballade Erlkönig. Er schreibt Gedichte, die sich quer zur zeitgenössischen Entwicklung stellen, die sich reimen, die sukzessive das tradierte Formenrepertoire adaptieren und transformieren, die erzählen und unterhalten (wollen). Der junge Gernhardt ist auf Komik aus, er braucht die formale Vorgabe, braucht Regel und Korsett, um sich daran zu reiben, um aus der Korrelation von vielfach erprobten, seriösen, poetischen Sprechweisen mit komischen, vielfach unseriösen, absurden Inhalten jene "Fallhöhe" zu erzeugen, die lachen macht.
Abseits und zunächst kaum bemerkt vom Literaturbetrieb bringt er in die tradierten Formen eine Vielfalt neuer Sprechweisen, Jargons und Motive ein und operiert gezielt mit "vertrauten Lauten" ("Wörtersee"). Gernhardt möchte, ähnlich wie Brecht, erreichen, daß die Verse in den Köpfen bleiben und nicht nur ein papierenes Dasein führen. Heute läßt sich bereits sagen, daß Gernhardt dieses Ziel besser als jeder andere Lyriker seiner Generation erreicht hat. Er ist nicht nur einer der auflagenstärksten Autoren, sondern auch einer der meistzitierten. Viele seiner Verse sind bereits ‘Volksmund’ geworden und führen ein Eigenleben als "Golden Oldies", "Lyrik-Hämmer", "Smash-Hits" oder "Evergreens". Ungewöhnliche Verbreitungsformen, etwa in den Soloprogrammen und Spielfilmen des Entertainers Otto WAALKES, haben zu diesem Erfolg beigetragen. Die Bedingung der Möglichkeit für diesen Erfolg ist jedoch die hohe Qualität und Virtuosität seiner Arbeiten.
An die Seite der formalen steht eine inhaltliche Vielfalt. Einen vergleichbaren thematischen Reichtum findet man im 20. Jahrhundert vermutlich nur bei Bertolt BRECHT. Seit den achtziger Jahren ist Gernhardt nicht mehr in erster Linie auf Komik oder gar auf Nonsens aus. Doch dürfen ernste Töne nicht ins Wehleidige kippen. So heißt es in "Das vierzehnte Jahr": "Gebe, o Gott!, daß sie wenigstens lustig wird, meine Klage." Mit "Körper in Cafés" (1987) und den Nachfolgebänden hat er sich auch die ‘seriöse’ Kritik und eine breite Leserschaft erobern können. Er hat eine Fülle relevanter Themen aufgegriffen und dargestellt, die große ebenso wie die kleine Welt, das Alltägliche, Banale, Unscheinbare, die politischen Umbrüche der sechziger und siebziger Jahre, die Wiedervereinigung, den Bürgerkrieg in Jugoslawien, die menschlich-allzumenschlichen Konstanten, den Generationen- und den Geschlechterkonflikt, die Emanzipation, den Wirtschaftsimperialismus ebenso wie soziale Randlagen, Fragen der Moral und der Sexualität und natürlich Aspekte der Ästhetik. Während sich der Großteil seiner zeitgenössischen Dichterkollegen im Lamentoton und Innerlichkeitsjargon erschöpft, holt Gernhardt die Welt ins Gedicht. Nirgendwo sonst in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik läßt sich so genau nachlesen, wie wir heute leben und denken, welche Probleme, Ängste und Nöte die alte und die neue Bundesrepublik gequält haben und noch quälen, mit welchen inneren Widersprüchen vor allem die (west-)deutschen Intellektuellen leben, mit welchen Paradoxien sie sich in ihrem Alltag einrichten und – in der Regel – gut damit leben. Gernhardt argumentiert aus der Perspektive des aufgeklärten, eher ‘links’ stehenden Intellektuellen, seine Kritik trifft vor allem den restaurativen Geist und die häßlichen Facetten der Bonner bzw. Berliner Republik ("Nachdem er durch Metzingen gegangen war"), aber er nimmt mit Vorliebe auch die Idiosynkrasien der Öko- und Friedensbewegung aufs Korn. Seine Texte heißen: "Ein zeitkritisches Gedicht", "Fünfzigerjahre Lied", "Alltag", "Am Telefon", "Jugendtreff in Kaiserslautern", "Das Elektrizitätswerk", "Maredo Steak-House", "Tischtuchgedicht", "Beginn der Sommerzeit 96", "Italien – Mexiko, Fußball-WM, 28.6.94" oder "Kurze Rede zum vermeintlichen Ende einer Fliege".
Die tradierten Formen haben sich dabei als äußerst strapazierfähig erwiesen. Wichtigstes Beispiel: Seit Ende der siebziger / Anfang der achtziger Jahre ist die – nicht nur in der Lyrik, auch in den anderen Gattungen – dominante und weit verbreitete Ichfindungs- und Identitätserkundungsliteratur unmöglich, gar lächerlich geworden. Gern zitiert wird in diesem Kontext Gernhardts Sonett "Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs" (1979), das den "Empfindungsschrott" und den hybriden Wortmüll sich ‘links’ gebender Kreise in einer lyrisch überhöhten Form persifliert. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß über den Umweg des komischen Gedichts verloren geglaubte Ton- und Gefühlslagen, Pathos und Innerlichkeit, wieder möglich geworden sind. Gernhardt hat einen Weg gefunden, das Abgeschmackte, Peinliche, Schwülstige, Unerlaubte, Verstaubte der Gegenwartslyrik mit Witz und Ironie erneut zu sagen, ohne daß seine Texte ins ungewollt Lächerliche abkippen. Die in der Nachkriegsliteratur, speziell in den siebziger und achtziger Jahren, allzu strapazierten und einseitig behandelten Themen wie ‘Entfremdung’ ("Alles wird anders"), ‘Schuld’ ("Traum im Amazone-Village"), ‘Emanzipation’ ("Stadtnacht"), ‘Umwelt’ ("Das vierzehnte Jahr", Zurück zur Unnatur") und dergleichen werden wieder glaubwürdig und in ästhetisch virtuoser Gestalt behandelt.
Wenig gepflegt wurden in der Nachkriegszeit auch die lyrischen Großformen. Zwar diskutierte man "Thesen zum langen Gedicht" (1965/66), aber Elegien, Epen und Zyklen gab es kaum. Gernhardt hat auch hier Akzente gesetzt: 1987 mit dem Zyklus "Spaßmacher und Ernstmacher" (ein Lehrgedicht in zwölf Teilen), mit der doppelt anspielungsreichen "Montaieser Elegie" (Anspielung auf RILKE) "Das vierzehnte Jahr" (Anspielung auf Ingeborg BACHMANN), vor allem aber mit "Herz in Not", einem Zyklus von hundert Gedichten, die die Erfahrung einer Herzoperation verarbeiten.
Gernhardt hat zwei Schwerpunkte: Er entfaltet eine große Virtuosität im Umgang mit vorgefundenenTexten, Gattungen, gängigen Metren, Rhythmen, Reimschemata usw., und er erfindet ständig neue Genres, wie zum Beispiel die Form des `Besprechungsgedichts´ ("Als er die ersten Kritiken nach dem Erscheinen des Romans `Ein weites Feld´ las", "Geschehen und Gesehen"). Als vielseitiger Künstler, Maler und Zeichner hat er viel experimentiert und verschiedene Medien miteinander kombiniert. Er hat einfache Kinderreime mit visuellen Elementen wie Zeichnungen, Fotos und Kalenderblättern kombiniert und Postkartengedichte, Bildgedichte, Bilderrätsel und dergleichen verfaßt. Er hat Gedichte ersonnen, die ausschließlich aus einsilbigen Wörtern bestehen (zum Beispiel "Indianergedicht"), er hat die Form des Tagebuchgedichts erfunden ("Der Sommer in Montaio") und dem Sinnspruch den Nonsens erschlossen ("Trost und Rat"). Gernhardt belegt beispielintensiv, daß tradierte Formen innovativ gefüllt werden können, während das Formexperiment nicht vor Trivialität und Epigonalität schützt: Die "Neuen Wilden", so Gernhardt, dichteten mitunter wie die "erste[n] Mensch[en]". Die eingefahrene Unterscheidung zwischen sogenannter ‘alter’ und sogenannter ‘neuer’ Poesie ist spätestens seit Gernhardt obsolet.
Robert Gernhardt hat einen handwerklichen, pragmatischen Zugang zur Lyrik, er rückt ab vom ‘Kunst ist ewig’-Postulat, er glaubt nicht, daß der Dichter ‘es’ nur so und nicht anders habe sagen können, er vertritt im Gegenteil die Auffassung, daß sich Gedichte verbessern lassen, und so hat er eigene und fremde Gedichte, darunter Texte von Werner BERGENGRUEN, Bertolt BRECHT, Günter KUNERT, August von PLATEN und Anton SCHNACK einer Korrektur unterzogen.
Dieser pragmatische Zugang wird schon in der Frühzeit sichtbar, als Gernhardt und andere gemeinschaftlich Texte produzieren und mit Gedichten aufwarten, die aus Workshops hervorgegangen sind. 1966 erscheint im Zweitausendeins Versand die fiktive Leben-Werk-Monographie "Die Wahrheit über Arnold Hau", ein Gemeinschaftswerk von Lützel Jeman (d.i. Robert Gernhardt), F. W. BERNSTEIN (d.i. Fritz WEIGLE) und Friedrich Karl WAECHTER, die hier als ‘Herausgeber’ firmieren. Charakteristisch für diese frühen Jahre ist, daß die Autoren – vor allem Gernhardt und WEIGLE – ihre Einfälle miteinander teilen und in Co-Autorschaft zu jener Spielart der Komik finden, die ihnen – insbesondere bei pardon – "ziemlich breite Zustimmung" einfährt. "Die Wahrheit über Arnold Hau" gehört heute zu den Klassikern der Nonsensliteratur, das Buch hat sich über die Jahre als Steadyseller erwiesen. Die Herausgeber-Autoren versuchen sich in nahezu allen gängigen Textsorten. Ein weiteres Beispiel für die Co-Autorschaft von Gernhardt und WEIGLE ist der 1976 erschienene Gedichtband "Besternte Ernte". Der erste eigenständige Band ist dann "Wörtersee" (1981).
Komik erzielt Gernhardt aus der Regel bzw. Regelverletzung, am besten erkennbar, wenn er etwa ‘hudibrastische’ Beinahe-Reime ohne vollkommenen Gleichklang produziert ("Euter/weiter"; "ficken/glücken"; "Nolde/wollte"; "Scheiße/-kreise"). Ein Stilmittel, das er in einem Gedicht "für BILD-Leser" bis zur blanken Karikatur des Reimzwangs getrieben hat. Gernhardt ist mit diesem 1994 erschienenen Gedicht – für ein einziges Mal nur - Autor der BILD-Zeitung geworden, und er hat sich durch Strapazieren des Nonsensreims zugleich von diesem Umfeld distanziert.
Anhand der Rezeption von "Wörtersee", der nur eine einzige Rezension erfährt (bezeichnenderweise von Werner Burckhardt, dem Jazzkritiker der Süddeutschen Zeitung), wird deutlich, daß sich Gernhardt mit seinen komischen Erzähl- und Bildgedichten, Grafiken und Cartoons, Tonfällen und Sprechweisen auf einem Terrain bewegt, das in der Regel nicht komisch besetzt ist und auch von der Kultur nicht als komisch wahrgenommen wird. Gernhardt will hingegen zeigen, daß im Grunde alle Lyrik komisch ist. Das Gedicht, das den Anspruch und den Ruf hat, ernst zu sein, tief, konzentriert, getragen im Ton, kurz: erhaben und feierlich, erlebt allzu häufig seinen Absturz ins ungewollt Lächerliche. Es kann daher nicht überraschen, daß Gernhardt in seinem "Wörtersee", wie schon früher in pardon und wie auch in seinen späteren Veröffentlichungen, Gedichte ‘ernster’ Provenienz parodiert. Es gibt, auf das gesamte lyrische Werk bezogen, Parodien auf bzw. Paraphrasen von Gottfried BENN ("Frühes Glück", "Retrospektakel"), Bertolt BRECHT ("Fragen eines lesenden Bankdirektors"), Dante ALIGHIERI ("Du"), Günter EICH ("Inventur 96"), Erich FRIED und Kristine ALLERT-WYBRANIETZ ("Florian-Freyer-Gedichte"), Hugo von HOFMANNSTHAL ("Terzinen über die Vergeßlichkeit"), Ernst JANDL ("Ottos Mops ond so fort"), Eduard MÖRIKE ("Die Nacht, das Glück, der Tod"), Rainer Maria RILKE ("Wärme, Stille, Kühle") und vieler anderer. Diese Texte treiben kein Versteckspiel für Gebildete, sondern signalisieren vielfach schon im Titel, auf welchen Autor sie referieren ("Zu zwei Sätzen von Eichendorff", "Zu einem Satz von Mörike", "Im Trakl-Ton", "Tu´s noch einmal, Benn" usw.). Zumeist wird nicht auf primär komische, sondern auf ernste Autoren referiert, nicht MORGENSTERN, RINGELNATZ oder TUCHOLSKY stehen zum Vergleich, sondern etwa die vorerwähnten BENN, BRECHT und RILKE. Gernhardt braucht diese Autoren, um aus dem Zusammentreffen von Vorbild und Nachbild Komik zu schlagen, Komik, die von der enttäuschten Vorgabe, von der strapazierten Form, vom unterlaufenen Anspruch lebt. In den Referenztexten ist zumeist der – für die Komik – günstige Fall gegeben, daß sie sich schon inhaltlicher und formaler Traditionen und Kodes bedient haben: Reim, Metrum, Rhythmus, Klang und Lautung, Gliederungsformen wie Vers und Strophe, ferner Architektur, Genre usw. Eine Fülle von steuernden, regelnden, ordnenden Elementen, eine Fülle von abstrakten Größen wie Anspruch, Erwartung, Geschmack, Orientierung, mit denen der Komikproduzent arbeiten kann. Gernhardts Texte sind nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie diese Regeln und Normen internalisiert haben, weil ihr Autor die lyrischen Ordnungen nicht nur präsupponiert, sondern adaptiert, sie zu beherrschen und zu transformieren weiß wie vielleicht kein zweiter Lyriker seiner Generation. Seine Gedichte führen die Normen vor, die sie verletzen oder unterlaufen, sie bauen die Erwartungshaltung selber auf, die sie zu enttäuschen gedenken.
Gernhardts Erfolg bei der Literaturkritik ließ auf sich warten. Er setzte erst mit den drei Gedichtbänden "Körper in Cafés" (1987), "Weiche Ziele" (1994) und "Lichte Gedichte" (1997) in breiter Form ein. Anders verhält es sich beim Leser: Während sich die Verkaufszahlen der meisten deutschsprachigen Gedichtbände seit den sechziger Jahren im Bereich der Enzensbergerschen Konstante (1.354 Exemplare) bewegt haben dürfte, haben sich Gernhardts Bücher über die Jahre als Steadyseller erwiesen (bis Mitte der neunziger Jahre sind, solide geschätzt, mehr als 50.000 Exemplare allein von "Wörtersee" verkauft worden). Die Rezeptionsformen verlaufen bis in die achtziger Jahre hinein gegensätzlich. Bei Gernhardt: breite Rezeption in der Leserschaft, schmale Rezeption in der Literaturkritik – nur vereinzelt, eher en passent und mit zeitlicher Verzögerung. Beim Hauptstrang der ‘ernsten’ Nachkriegslyrik: intensive Rezeption in den Medien, in Literaturkritik und Literaturwissenschaft; in der Regel jedoch keine breitere Leserschaft, die über die ‘Enzensbergersche Konstante’ hinauskäme. Erst seit "Körper in Cafés" wird Gernhardts Lyrik von Kritik und Leserschaft gleichermaßen breit rezipiert.
Eine interessante Parallele ergibt sich in der Wahl formaler und inhaltlicher Mittel in der deutschsprachigen Lyrik seit den sechziger Jahren. Auch hier verlaufen der Mainstream und Gernhardts Autorschaft geradezu diametral: Während die tonangebende Lyrik unter dem Einfluß CELANS, BACHMANNS usw. sich vom tradierten Formenkatalog fast völlig löst (mit dem Sonett als Ausnahme), schlägt Gernhardt auf diesem Terrain einen produktiven und innovativen Sonderweg ein. Inhaltlich eine vergleichbare Opposition: Gilt die Mainstreamlyrik bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein als Seismograph und Artikukationsform innerer Befindlichkeit, so wird ihr diese Perspektive seither als zu eng angelastet; ist es Gernhardt bis in die achtziger Jahre hinein vorgeworfen worden, seine Lyrik sei bloß Nonsens, bestenfalls "höherer Blödsinn" (J. Drews), so wird ihr inzwischen zugute gehalten, daß sie konkurrenzlos welthaltig sei und den Alltag und die innere Befindlichkeit der Bundesrepublik zeige, daß diese seine Lyrik darstelle, "wie wir heute leben". Gernhardts "anthropologischer Blick" sei auf die großen Themen Liebe, Altern, Tod, Natur und Dichtung gerichtet (G. Seibt) und enthalte zugleich die ganze Fülle der kleinen Welt. Kein Anlaß sei ihm zu trivial, kein Motiv zu abseitig, kein Bild zu häßlich. Gernhardts Lyrik will uns zeigen, "Was es alles gibt" (so ein weiterer Gedichttitel), und da kann ein Gedicht auf Toilettenpapier ("Als er sich auf einem stillen Örtchen befand") oder auf eine "Obszöne Zeichnung am Volksbildungsheim" nicht zu trivial sein.
Zu ähnlichen Befunden ist Gernhardt auch selbst gekommen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil seines Werkes besteht in Analysen, Interpretationen, Kommentaren zu eigenen Werken und solchen fremder Provenienz (etwa "Gedanken zum Gedicht"). Die "Folgen der Dichtung" sind immens und belegen, daß ihre Möglichkeiten bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Gerade die neuen Sujets in den tradierten Formen haben heftige und kontroverse Diskussionen ausgelöst, so daß Gernhardt für sich feststellen kann: "Ich brauchte die Regel, solange ich eindeutig auf Komik oder Nonsens aus war - Komik lebt von der Regelverletzung, [...] und ich liebe die Regel nach wie vor, weil sie beides ist, Widerstand und Wegweiser". L. Ha.
AUSGABEN: Die Wahrheit über Arnold Hau. Zus. mit F. W. Bernstein u. F. K. Waechter. Ffm. 1966, ern. 1974, 1991, 1996.- Ich höre was, was du nicht siehst. Zus. mit A. Gernhardt. Ffm. 1975, ern. 1983.- Mit dir sind wir vier. Zus. mit A. Gernhardt. Ffm. 1976, ern. 1983.- Besternte Ernte. Gedichte aus fünfzehn Jahren. Zus. mit F. W. Bernstein. Ffm. 1976, ern. 1981, Reinbek 1983, Ffm. 1997.- Was für ein Tag. Zus. mit A. Gernhardt. Ffm. 1978, ern. 1981.- Ein gutes Schwein bleibt nicht allein. Zus. mit A. Gernhardt. Ffm. 1980, ern. 1983.- Wörtersee. Ffm. 1981, ern. Zürich 1989, Ffm. 1996.- Hier spricht der Dichter. 120 Bildgedichte. Zürich 1985, ern. Reinbek 1994.- Körper in Cafés. Zürich 1987.- Reim und Zeit. Stgt. 1990.- Weiche Ziele. Zürich 1994.- Gedichte 1954 – 94. Zürich 1996.- Lichte Gedichte. Zürich 1997.- Vom Schönen, Guten, Baren. Bildergeschichten und Bildgedichte. Zürich 1997.
LITERATUR: D. Segebrecht, Rez. (in FAZ, 1.8.1967).- P. Meyer, Rez. (in stern, 24.11.1977).- W. Burckhardt, Rez. (in SZ, 24./25.10.1981).- W. Nagel, Rez. (in Die Zeit, 8.10.1987).- H. Hartung, Rez. (in FAZ, 7.11.1987).- A. Schader, Rez. (NZZ, 20.11.1987).- R. Gernhardt, Gedanken zum Gedicht. Zürich 1990.- H. Detering, Rez. (in FAZ, 15.12.1990).- L. Hagestedt, Rez. (in SZ, 29./30.12.1990).- V. Hage, Rez. (in Die Zeit, 10.5.1991).- M. Dierks, Rez. (in FR, 5.10.1994).- M. Skasa, Rez. (in Die Zeit, 7.10.1994).- K. Flasch, Rez. (in FAZ, 21.11.1994).- D. Arnet, Der Anachronismus anarchischer Komik. Reime im Werk von R. G. Bern u. a. 1996. (Europ. Hochschulschr. Reihe I, 1587).- H. Chr. Kosler, Rez. (in NZZ, 3.12.1996).- H. Spiegel, Rez. (in FAZ, 3.12.1996).- Th. Steinfeld, Rez. (in FAZ, 2.8.1997).- V. Hage, Rez. (in Der Spiegel, 4.8.1997).-